Montag, 9. November 2009

Autonome Region Mauertanien

Jeder achte Deutsche will die Mauer zurück. Mit dieser Meldung verstört die "Leipziger Volkszeitung" pünktlich zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls die Republik. Bei einer von dem Blatt initiierten repräsentativen Umfrage des Leipziger Instituts für Marktforschung kritisierten mehr als ein Drittel der Befragten, dass Wirtschaft, Sozialwesen und Politik - und damit der Kern der Lebensbedingungen - zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR wesentlich ungerechter seien als zur Zeit der beiden deutschen Staaten. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte im September eine Forsa-Umfrage, bei der sich fast jeder sechste Teilnehmer für den sofortigen Wiederaufbau der Mauer aussprach - übrigens zu annähernd gleichen Teilen in Ost und West.

"Something's rotten in the State of Germany", könnte man - frei nach Shakespeare - folgern. Das aber wäre zu kurz gegriffen, denn derzeit herrscht weltweit große Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus: Eine Studie im Auftrag der britischen BBC förderte jüngst zutage, dass nur elf Prozent der Befragten in 27 Ländern der Ansicht sind, der Kapitalismus funktioniere gut. Lediglich in den USA (25 Prozent) und Pakistan (21 Prozent) war mehr als jeder Fünfte mit der aktuellen Wirtschaftsordnung zufrieden.

Die Bestandsaufnahme ist beunruhigend, wenngleich kaum überraschend. So beunruhigend aber doch, dass Leute wie Martin Sonneborn und dessen Sammelsurium querdenkender politischer Grenzgänger es sich nicht nehmen ließen, an der ehemaligen innerdeutschen Grenze eine Aktion zu inszenieren, bei der sie die Mauer wieder aufbauen wollten. Das war freilich ein halbherziger, vor allem an die Medien adressierter Akt, um die Aufmerksamkeit für ihre bei der Bundestagswahl nicht zugelassene Partei "Die Partei" zu steigern.

Konsequenter wäre es doch, die zwölf bis 16 Prozent der Deutschen, die sich die Mauer zurückwünschen, gleich mit einer ebensolchen zu umgeben. Etwa in den idyllischen Bundesländern Thüringen und Sachsen-Anhalt. Zwar ergeben beide Länder zusammen nur rund ein Zehntel des gesamten bundesdeutschen Territoriums. Es dürfte aber kaum Probleme bereiten, die Mauerfreunde auf diesem Areal zusammenzufassen. "Blühende Landschaften" gibt es dort auch, etwa den Rennsteig in Thüringen oder die Wörlitzer Parkanlagen. Dort könnten sie sich nahezu ungestört austoben. Selbst ein paar größere Städte sind in der Region vorhanden, die mit allerlei Industrie, Dienstleistung, sozialer Infrastruktur und Kultur im Grunde alles bieten, was die Bürger von Mauertanien - so der Name der neuen autonomen Region inmitten der Bundesrepublik - sich wünschen.

Wer jetzt meint, das röche verdammt nach Ausgrenzung oder Ghettoisierung - hat natürlich recht. Und als verantwortungsbewusster Staat sollte die Bundesrepublik in der Tat einschreiten und eine derartige Entwicklung verhindern. Hat sie aber nicht - ganze 20 Jahre lang. So ist die Fraktion derer, die sich die Mauer zurückwünschen, Jahr um Jahr größer geworden. Was liegt da näher, als das Autonomiestreben dieser immerhin zehn bis zwölf Millionen Menschen nun endlich nach Kräften zu fördern? Volkswirte könnten argwöhnen, dass die Produktivität der Restrepublik darunter litte. Doch dieser Effekt dürfte nur vorübergehend sein. Denn die jüngsten Umfragen ergaben auch, dass die überwiegende Mehrheit der Mauersehnsüchtigen bereits älter als 50 Jahre ist. Nicht dass ältere Menschen weniger produktiv seien - aber sie sind weniger reproduktiv. Und so dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis das an die autonomen Republikflüchtlinge verliehene Territorium mangels verbleibender Einwohner wieder annektiert werden könnte. Fast so wie vor 20 Jahren also.

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