Montag, 26. Oktober 2009

Aus der Hüfte geschrieben (1)

Südseite

An den Tag, als sie mich abholten, erinnere ich mich noch gut. Ganz so, als sei es erst gestern gewesen. Sie fuhren mit mir weit, weit hinaus, an einen Ort, wo die Füchse einander "Gute Nacht" sagen. (Wenn einer sagen kann, dass dieses alte Sprichwort zutrifft, bin ich es wohl.) Jedenfalls sind dort, wo ich seit jenem Tag ausharren muss, weit und breit kein Haus, kein Hof zu sehen - bloß eine Kreuzung und vier sich in der endlosen Weite verlierende Asphaltbänder.

Der Wagen hielt an, dann ging alles verdammt schnell. Zwei Männer zogen mich von der Ladefläche des Lkws; der eine hielt mich am oberen Ende, der andere um die Taille. Sie legten mich an den Straßenrand, und es machte ihnen offenbar nichts aus, dass der Grünstreifen feucht und mit Hasenkacke übersät war. Stumm ertrug ich die Demütigung.

Dann luden sie auch meine drei Begleiter ab: Viktor und Veronika, mit denen ich im Grunde nichts zu tun hatte, weil sie aus einem anderen Lager stammten, rammten sie an den Ost- und Westseiten der Kreuzung in den kühlen, matschigen Boden. Anschließend kam mein Kumpel Oskar an die Reihe. Ohne dass ich mich von ihm verabschieden konnte, nahmen sie ihn und steckten ihn in ein vorgebohrtes Loch an der Nordseite. Ich hörte, wie sie ihn mit einem Hammer immer tiefer in die Erde trieben, bis er reglos und wie angewurzelt aus dem schmalen Loch ragte, seine Spitze rund drei Meter über dem Grund.

Die Männer klatschten den Dreck von den Händen, dann kamen sie langsam auf mich zu. Sie redeten nicht, und ich vermutete, dass Männer, die solche Arbeit verrichten, generell wortkarg sind. Was soll man einander auch sagen hier draußen in der Ödnis?

Einer zündete sich eine Zigarette an, der andere kaute unentwegt Kaugummi. Dann hievten sie mich mit vereinten Kräften aus dem Dreck und lehnten mich an den Wagen. Der Raucher schnappte sich einen Spaten und grub ein Loch an der Südseite der Kreuzung. Mein Loch.

Ich glaube, es war in diesem Moment, als mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich eine Bestimmung hatte. Und dass ich das Glück hatte an der Südseite zu stehen. Oskar, der auch im Lager schon immer ein Pechvogel war, etwa weil sein Lack ständig abblätterte, hatte es nicht so gut getroffen. Wer mag schon ein Leben lang an der Nordseite stehen - stets mit dem Rücken zur Sonne?

Der mit dem Kaugummi begann plötzlich zu fluchen: "Wir haben zu wenig von dem Scheißzement! Wenn der Wind zunimmt, wird es bald schief stehen."

"Wen stört's?", entgegnete der Raucher, "ich frage mich sowieso, weshalb wir die Dinger hier aufstellen."

"Allerdings", stimmte der Andere zu. "Komm, pack mal mit an. Dann haben wir's hinter uns."

Sie schleppten mich an meinen Bestimmungsort. Dann ließen sie ruckartig los, und ich rauschte in die Tiefe. Mein Fuß schlug kräftig auf, und es gab einen dumpfen Schlag. Die Männer hatten zweifellos übersehen, dass ein großer Kiesel im Loch lag - oder sie scherten sich nicht darum, dass er unter mir zermahlen wurde.

Ungeschickt richteten sie mich aus und gossen Zement ins Loch. Nass, klebrig und kalt umschloss er meinen Fuss. Dann erwärmte sich die Masse, unerwartet, aber nicht unangenehm. Oft hatte ich überlegt, wie dieser Moment wohl sein würde. Der Zeitpunkt, an dem du weißt, dass du für immer deine Beweglichkeit verlierst. Jetzt, da es soweit war, konnte ich keinen klaren Gedanken fassen und ließ alles geschehen. Wie in Trance spürte ich, dass der Zement immer härter wurde. Bis er nach ein paar Minuten so fest war, dass er jegliche Bewegung verhinderte.

Dann nahmen sie mir den Sack ab, und die ganze Welt - jedenfalls der Teil, an dem ich mich befand - konnte mich sehen. Doch in all den Jahren, die ich an diesem Ort zubringen musste, nahm kaum jemand von mir Notiz. Nur gelegentlich, wenn sich ein Auto der Kreuzung näherte, sah ich, wie sich die Gesichtszüge des Fahrers zu einem Grinsen formten. Zu einem Grinsen, das der Freude über die Vorfahrt entsprang, die ich ihm signalisierte.

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